„Wir wollen nicht mit euch reden“, sagt ein anderer, noch etwas früher.
Ich stehe alleine vor dieser Gruppe, die blau-weiße Fahnen schwenkt und ein Banner mit der Aufschrift „GEGEN JEDEN ANTISEMITISMUS“ sowie ein Schild mit der Aufschrift „für Frieden ohne Antisemitismus“ in die Höhe hält. Sofort werden alle Laut, schreien mir entgegen und ein Mann kommt zwei Schritte auf mich zu und sagt „Wir wollen nicht mit euch reden.“
Ich schaue mich kurz um, um auch sicherzustellen, dass ich immer noch alleine bin. Und das bin ich auch, also versuche ich es dieser Person vor mir klar zu machen, dass ich als Individuum keine Gruppe vertrete und lediglich wissen möchte warum seine Gruppe da steht und wogegen sie überhaupt protestieren.
„Verpiss dich“, ruft der andere, der einige Zeit zuvor auch „alle antisemitischen Ausländer raus“, den Menschen auf der Uni Wiese zugerufen hat. (Es ist ja schon bewundernswert, wenn es dann Nazis schaffen ihren Parolen noch ein Wort hinzuzufügen, ganz zu schweigen von der Leistung die es braucht um auch noch ein solch Komplexes Wort wie ‚antisemitisch‘ zu nehmen. Lustig auch, dass wir alle draußen auf einer Wiese standen :P)
Der erste Mann sagte mir, er sei der Organisator, dabei hätte er genauso gut behaupten können er sei Neurochirurg oder der Papst, keine Warnweste, kein Erkennungszeichen, lediglich eine Behauptung. Ich wiederholte meine Frage, wollte ihm klar machen, dass mich die Sicht dieser Leute interessiert.
Ich solle nach Gaza und von dort aus meine Probleme lösen, wird mir gesagt, gefolgt von unzähligen Beleidigungen. Der Organisator/Neurochirurg/Papst sieht sich plötzlich dazu gezwungen zur Polizei zu laufen, also warte ich, weil mich auch deren Sichtweise interessiert. Doch es kommt kein Beamter zu mir.
Stattdessen fragt mich einer dieser wundervollen Menschen, der mit mir dort war, warum ich mich überhaupt mit denen abgebe.
Zehn Minuten früher laufe ich durch ein Trümmerfeld.
Als zeichen des Protestes wurden auf der Wiese Steckbriefe von getöteten Kindern in fein säuberlichen Reihen hingestellt. Ich stelle mich an eine Reihe, lese mir das erste Blatt auf dem Boden durch, sehe das Foto, den Namen, Geburtstag und Todestag und fühle, wie sich mir die Kehle zuschnürt. Einen Schritt weiter, nächstes Kind. Noch ein Schritt, der dem Einschlagen einer Bombe gleicht. All diese kleinen Steckbriefe werden zu Trümmern und unter ihnen liegen diese kleinen Menschen begraben. Und ich laufe weiter, spüre die Erde beben und die Luft brennen und höre dann diesen Schrei, der Menschen, nach Freiheit.
Und dann bleibe ich stehen.
Ich stehe in unserem alten Wohnzimmer, vor mir läuft der Fernseher, zeigt die Bilder, die meine Kindheit geprägt haben. Nur das leise Knistern der Kathodenröhre ist zu hören, der Fernseher ist stumm, doch braucht es keinen Ton um zu erkennen, dass es sich um Krieg handelt, bei den Szenen die dort laufen. Menschen, die ihre Heimat verlassen, Menschen die weinen, Menschen die keine Tränen mehr in ihren Körpern zu haben scheinen und nur noch zitternd auf einem Traktoranhänger sitzen.
Und dann stehe ich vor dieser Gruppe und möchte ihnen am liebsten all diese Fragen aus meiner Kindheit stellen, möchte verstehen was für ein Mensch man sein muss um all dieses Leid gutheißen zu können.
Einige Stunden vorher erinnere ich mich an die Proteste, zu denen mich mein Vater immer mitgenommen hat. Damals waren die Fahnen rot mit schwarzem Adler, jetzt sind neben rot und schwarz auch noch weiß und grün dazu gekommen. Der Ruf ist aber immer noch der gleiche: Frieden. Unabhängigkeit. Ein Ende des Genozids. Freiheit.
„für Frieden ohne Antisemitismus“ ist eigentlich kein Verkehrter Gedanke. Eigentlich. Wird aber jede Unterstützung der Palästinenser gleich als antisemitisch von der Gegenseite angesehen, jede Äußerung von Kritik und jede Hilfsleistung an Palästinenser, so impliziert es doch, dass die alleinige Existenz dieser Volksgruppe antisemitisch zu sein schein. Somit wäre für Zionisten nur Frieden ohne Palästinenser möglich.
Erschreckend.