Der Kraken,
Schrecken der sieben Weltmeere, Zerstörer unzähliger Schiffe, die er mit seinen
acht Fangarmen in die dunklen, kalten Tiefen zerrt. Zwei dieser Fangarme kommen
jetzt langsam aus seiner Höhle, danach zwei weitere, ziehen langsam den roten Körper
hinter sich her und dann ist er vollständig heraus und zeigt sich in seiner
ganzen Pracht.
Ziemlich klein, schießt mir durch den Kopf, wahrscheinlich noch ein Jungtier. Die Freude ist groß, tatsächlich
so groß, dass ich sie an dem Schütteln an meiner Schulter spüren kann. Ich
schaue nach rechts, und pure, kindliche Freude strahlt mir entgegen. Und die
spüre ich auch, bei dem Anblick, aber auch ein leichtes Unbehagen, alte
verrostete Mechanismen, die langsam wieder in Gang kommen, tiefsitzende Angst.
Spielt alles keine Rolle, denn vor mir steht nun der erste, lebende Oktopus,
den ich sehe. Also mache ich Fotos.
Der Name Oktopus
kommt aus dem Griechischen und bedeutet sowas wie „Achtfuß“ oder „Achtfüßler“.
Da es aus dem Griechischen stammt, lautet der richtige Plural des Wortes
Oktopoden und nicht Oktopusse (obwohl es gebräuchlich ist) und auch nicht
Oktopi (obwohl es deutlich lustiger klingt). Aber als sich herausstellte, dass
das Aquarium keinen Namen für ihn hatte, nannten wir den vor uns schwimmenden
Oktopus einfach „Pi“.
Pi hat
selbstverständlich 8 Tentakel mit unzähligen Saugnäpfen dran und wahrscheinlich
genug Zugkraft, um uns beide in sein Becken zu ziehen mitsamt Fotoausrüstung.
Erstaunlich ist jedoch, dass in jedem dieser Tentakel mehr Nervenzellen
vorhanden sind, als in seinem Gehirn. Eine Beobachtung, die zu der Theorie
geführt hat, dass jeder dieser Tentakel eigenständig denken kann und sogar eine
eigene Persönlichkeit haben soll.
Vielleicht haben
wir genau das bei einem anderen Oktopus beobachten können, als dieser sich in
eine Ecke seines Aquariums verkroch und mit diversen Gegenständen eine Höhle
baute und nur ein einziger Tentakel herauskam und das Becken erforschte.
Vielleicht war es auch nur projiziertes Wunschdenken und ganz natürliches und
zufälliges Verhalten.
Was bedeutet es
überhaupt multiple Persönlichkeiten zu haben und wie soll man diese als
Außenstehender erkennen, wenn man ein Individuum vor sich hat, das sich so
gleichmäßig und elegant durch seinen Lebensraum bewegt. Wie lange muss man
Beobachter sein, um ein Wesen zu durchblicken, das einem nicht einfach
ausdrücken kann, wie es sein Dasein empfindet?
Ich habe zwar
keine Tentake, doch spüre ich wie etwas an mir zerrt; im Geiste, nicht in der
Realität – und doch nenne ich diesen Geist meine Realität. Zwei Wesen sind es,
die um mich kämpfen.
Der eine ist
tiefblau wie die unendlichen Weiten des Meeres und ebenso tief traurig. Er
fürchtet Alles und Jeden, der auch nur in meine Nähe kommt. Er ist der
Zweifler, derjenige, der nicht will, dass ich vorankomme, der nicht glaubt,
dass ich vorankommen kann, der hofft, dass ich stehen bleibe, mich zu einem
Ball auf dem Boden zusammenrolle, mich verstecke und mich in seine unendlichen
Tiefen sinken lasse. Für immer.
Der andere ist
Feuer und genauso feuerrot erscheint er mir. Er ist Wut in Person aber auch
Leidenschaft und Liebe. Er trägt so viele Facetten, dass es mir manchmal
unmöglich ist zu wissen, ob er Freund oder Feind ist oder mehr als einer, ein
echter Oktopus. Der Kraken, Schrecken der sieben Weltmeere, Zerstörer von Freundschaften,
Verbrenner von Erde, Meister alles Schönen, Verschlinger der Zeit, Liebhaber
der Liebe, Herold des Todes und Herrscher der Schlaflosigkeit.
Ein Oktopus
zeichnet sich nicht nur durch seine Intelligenz aus, sondern auch durch seine
Wandlungsfähigkeit. Er wechselt nicht nur seine Farbe, auch wenn das seine
Spezialität ist, er kann sich auch nahtlos seinem Umfeld anpassen und
vollkommen unsichtbar werden. Dabei kann er auch Pflanzen, Steine oder sogar
andere Tiere nachahmen.
Ich selbst
verstelle mich nicht. Ich versuche mich nur zu schützen. Ich baue Mauern mit
allem, was um mich herum liegt, eine Barriere. Ich mache mich unerreichbar und unantastbar,
weil ich unverwundbar sein möchte. Doch macht es mich nur einsam. Meine
Tentakel sind das einzige, was die Welt da draußen sieht.
Pi konnten wir
nicht sehr lange beobachten, bzw wir konnten ihm sehr lange zusehen, jedoch nur
beim Schlafen. Auch der andere Oktopus, den wir sahen, zeigte sich nur kurz in
seiner vollen Pracht, zog sich dann in eine Ecke zurück und baute sich eine
Höhle aus Seegras und seinem Spielzeug.
Wir machten uns
Gedanken darüber, ob er schlecht gehalten würde, ob es gegen seine Natur
sprach, dass er sich eine Höhle bauen musste und keinen Rückzugsort hatte. Doch
rückblickend könnte es genauso gut sein, dass das seine Natur ist, seine
Persönlichkeit. Lieber eine Höhle bauen, als sich einfach irgendwo hinein zu
quetschen.
Wie viel kann man
eigentlich über so ein Tier aussagen, wenn man es nur ein paar Stunden gesehen
hat?
Meine Natur
ist schwierig zu beschreiben. Vielleicht auch deshalb, weil ich zu wenig Zeit
hatte, mich selbst zu beobachten. Es brauchte aber nur eine Kleinigkeit, einen kurzen
Lichtblitz, um den Weg zu weisen.
Jeder Teil von
mir scheint seinen eigenen Willen, seine eigene Persönlichkeit, zu haben. Mal
sind sie ruhig, wie Tentakel, die in der Strömung treiben, dann schlagen sie
wieder wild um sich und ich selbst kann sie kaum bändigen. In solchen Momenten verletzen
sie nicht nur mich, sondern auch alle um mich herum. Vor allem diejenigen, die
mir etwas bedeuten.
Jetzt sitze
ich hier, allein, und höre ihren Stimmen zu. Ich betrachte etwas Wunderschönes
und sie überschütten mich mit ihren Worten, der eine voller Zweifel und
Unsicherheiten, der andere voll Verwirrung und Wut. Und mir wird schlecht, bei
dem Gedanken, dass all diese Obszönitäten, all diese panischen Ängste aus
meinem eigenen Kopf herauswachsen und Gestalt annehmen und andere verletzen
wollen, nur um niemanden an mich heran zu lassen.
Er lebt ein einsames
Leben, allein im Meer und allein auch in diesem Aquarium vor uns. Der Kraken,
Schrecken der sieben Weltmeere, wenn man ihn nicht wirklich kennt. Wahrscheinlich
einfach nur missverstanden und egal in welcher Form er erscheint, im Inneren
immer gutmütig. In jedem Fall wunderschön, auf diese einzigartige Weise. Und
schenkt man ihm etwas mehr Beachtung und ein bisschen mehr Zeit, sieht man, wie
faszinierend er sein kann.