Im Jahre 2018 entstand der erste Entwurf dieses
Textes. Ein erster Versuch meine Zugehörigkeit zu definieren, Heimat zu
bestimmen. Deshalb lasse ich auch den Titel stehen, den ich damals gewählt hatte.
Momentan gleiche ich mehr einem wandernden Derwisch, der sich von Wind und Mond und kleinen Zufällen durch die Welt leiten lässt. Und so ein kleiner Zufall führte mich schließlich auch zu diesem Text zurück.
Es reicht ein Bild, um Aufmerksamkeit zu erregen, ein Auge, dass umgedreht in die Kamera sieht und der Verweis auf Don Quixote. Und von einem Profil zu einem Buch ist es nicht wirklich weit. Also las ich im „Weltenwandel“ über das Leben, über Herkunft und Geschichte und Selbstfindung, Einsamkeit, Schmerz, Verzweiflung aber auch Glück und Hoffnung. Und noch mehr Leben. Und alles in einer Bildsprache, die mir sehr bekannt vorkam. So weckte der Text alte Erinnerungen in mir, die lange schon nicht mehr das Tageslicht erblickt hatten. Und das brachte mich zu meinen eigenen Texten zurück und ganz speziell zu diesem.
Im Jahre 2018 schrieb ich:
Heimat
Manchmal schaue ich in den Sternenhimmel hinauf und mich ergreift eine tiefe Sehnsucht. Oft stelle ich mir dann diese fremden Welten vor, mit ihren blauen und roten Sonnen, unzählige Monde, Planeten und ewiges Eis in dieser unendlichen Leere.
Manchmal frage ich mich, wo ich mich eigentlich zuhause fühle.
Als wir unsere Heimat verließen war ich erst vier Jahre alt. Dennoch habe ich ein paar Erinnerungen an diesen Ort: Ein Tunnel, der zu unserem Haus führte; der nasse Hinterhof, nachdem es geregnet hatte; das schwerelose Gefühl, in einem Lebensmittelkarton von meinem Onkel herumgetragen zu werden; ein sonniger Tag an einem Springbrunnen mit meinem Vater.
Und dann eine sehr lange Busfahrt mit kleinen Büchern voller Erzählungen und schwarz-weiß Zeichnungen von Tieren und faszinierenden Charakteren.
Deutschland war damals ein fremdes Land für mich, das verstand ich auch mit vier Jahren. Kalt war es, mit fremdartigen Menschen, die eine Sprache sprachen, die ich nicht verstehen konnte. Wir wurden zuerst auf einem Boot auf dem Rhein untergebracht. Ich kann diesen kleinen Raum noch vor mir sehen, in dem kaum Platz für uns war, obwohl wir so wenig dabeihatten.
Wie wenig wir hatten war mir damals nicht klar, jedenfalls bis mich mein Vater zum Einkaufen mitnahm.
Mein Vater nahm mich mit in einen Supermarkt. Was heute zum Alltag gehört war damals ein kleines Wunder. Ich entdeckte einen kleinen Fruchtjoghurt und nahm ihn mit. An der Kasse sprach mich diese Frau an und ich klammerte mich fester an meinen Vater. Nicht sie machte mir Angst, sondern diese fremden Laute, die sie ausstieß.
Den Joghurtbecher trug ich den ganzen Weg in der Hand, bis wir zurück auf dem Boot waren. Und dort saß ich dann auf dem Bett und wusste nicht, wie ich ihn essen sollte. Wir hatten keine Löffel.
Man kann aus dem Deckel eines Joghurtbechers einen Löffel falten, das lernte ich an diesem Tag von meinem Vater.
Zuhause war und ist immer noch der Ort, wo die Familie ist. Doch ist das auch die Heimat?
Mir wurde immer wieder gesagt, dass der Ort meiner Herkunft, meine Heimat sei. Doch wenn ich heute nach Mazedonien fliege, bemerke ich eine Distanz, nicht zwischen mir und dem Ort, sondern zwischen den Menschen dort und mir.
Ich musste mir die Sprechweise aneignen, um im Taxi nicht als Ausländer erkannt zu werden und den doppelten Preis zu bezahlen. Und wenn ich mal jemandem erzähle, dass ich in Deutschland lebe, kommt auch gleich die Aussage: “Du sprichst aber sehr gut Albanisch.”
“Du sprichst aber sehr gut Deutsch”, bekomme ich in Deutschland leider auch oft genug zu hören. Natürlich tu ich das, habe ich doch hier die gesamte schulische Ausbildung genossen, so wie jedes andere Kind auch. Aber nein, ich bleibe auch hier der Fremde. So argumentierte eine Kommilitonin, als ich sie auf eine falsche Verbform aufmerksam machte mit: “Ich bin die Deutsche, ich muss es besser wissen als du.”
Also, wo ist meine Heimat? Ich glaube, um dies zu beantworten muss ich erst einmal alle Menschen aus der Gleichung herausnehmen. Gedankenexperiment:
Ich wache auf in meinem Bett. Natürlich bemerke ich nicht, dass etwas nicht stimmt, wie auch, wenn ich noch keinen Kontakt zu irgendeinem anderen Menschen hatte. Schlaftrunken gehe ich zum Fenster und ziehe erstmal die Rollläden hoch. Vom gegenüberliegenden Dach schreckt eine Elster auf und fliegt in den wolkenverhangenen Himmel davon.
Langsam gehe ich in die Küche und schalte den Wasserkocher für meinen Tee ein. Während der Tee zieht putze ich mir schnell die Zähne und setze mich anschließend mit meinem Handy an den Küchentisch.
Komischerweise sind keine neuen Beiträge auf Reddit. Ich schiebe es auf ein Serverproblem. Als ich jedoch die Google Nachrichtenseite aufrufe, merke ich, dass es keine einzige Meldung von heute gibt. Tatsächlich ist die letzte Meldung ein Bild.de Artikel der um 23:59 Uhr veröffentlicht wurde. Ich laufe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Hier und da ein paar Serien, doch ein Großteil der Sender zeigt nur ein Testbild.
Jetzt erst komme ich auf die Idee aus dem Fenster zu schauen. Kein Mensch zu sehen, was nicht unbedingt etwas heißen muss. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich reiße das Fenster auf und lausche. Nichts, kein Rauschen von der nahe gelegenen Schnellstraße, keine Menschenstimmen, nur das leise brummen eines Audis, der 50 Meter entfernt, fahrerlos auf der Straße steht.
Langsam ergreift mich eine Panik. Ich ziehe mir schnell eine Jacke über und laufe hinaus auf die Straße. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen, also gehe ich zu dem Auto, öffne die Tür und schaue hinein. Handtasche auf dem Beifahrersitz, Rucksack auf der Rückbank, Handy in der Mittelkonsole. Ich greife danach, will es entsperren, aber es fragt nach einem Passwort. Ich drücke auf das Telefonsymbol - “Nur Notrufe” - und wähle 110. Nichts, nur das Klingelzeichen, doch keiner hebt ab. Ich lege auf, setze mich ins Auto und drücke auf die Hupe. Nach der Stille kommt sie mir Ohrenbetäubend vor und doch halte ich weiterhin beide Hände fest auf dem Knopf.
Nach fünf Minuten wird mir klar: Ich bin allein.
Ok, ich weiß nicht so recht, was sich mein Ich aus 2018 gedacht hat. Tee am frühen Morgen?
Soweit ich mich erinnern kann, sollte der Text dann damit weitergehen, dass ich die Welt bereise, so gut ich kann und mir einen Ort suche, an dem ich mein Leben verbringen möchte. Anschließend ein zweites Beispiel, wo es mehr um die Menschen geht, die ich um mich herum haben möchte.
Die Erzählerin im Weltenwandel macht eine eigene Transformation in dem Jahr durch, dass sie im Ausland verbringt. Sie beschreibt all die Erinnerungen und Ereignisse, die dies begünstigen.
Wenn ich meinen Text nochmal lese, bemerke ich auch bei mir eine Weiterentwicklung. Zum einen ist der Schreibstil einfach schrecklich und es ist mir schwer gefallen, den ganzen Text unbearbeitet hier stehen zu lassen. Aber auch inhaltlich würde ich es heute ganz anders angehen.
Sollte ich Negativbeispiele nennen, dann hätte ich viele, auf beiden Seiten der Nationalitäten.
Ab der fünften Klasse auf dem Gymnasium wurde mir klar, dass ich als Ausländer zu einer Minderheit gehöre. Waren wir in der Grundschule noch homogen verteilt, sah hier die Verteilung deutlich anders aus. Während des Studiums, ich hatte mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, stellte mir ein Professor während eines Kolloquiums als erstes die Frage: „Wo kommen Sie her?“
Perplex antwortete ich ihm: „Aus Köln.“, doch schien ihn das nicht zu befriedigen, den er hakte nach mit: „Ursprünglich?“
Es endete damit, dass der Biodeutsche in unserer Gruppe nach drei Fragen seine 1,0 bekam und wir zwei Deutschen mit Migrationshintergrund so lange malträtiert wurden, bis der Professor, zu der Zeit auch Dekan unserer Fakultät, zufrieden war. Die Note war entsprechend nicht sehr berauschend.
Und von anderer Seite gibt es auch ein gutes. Eine junge, albanische Frau, die ich eins abgrundtief geliebt habe. Wir saßen nebeneinander, sie hatte den Kopf an meine Schulter gelehnt, drehte sich zu mir und verkündete, als sei es nur etwas beiläufiges: „Ich werde dich niemals meinen Eltern vorstellen können.“
Ich war halt nicht aus ihrem Albanien, ich wurde knapp 4 Autostunden von Tirana entfernt geboren und habe dort leider die ersten vier Lebensjahre verbracht, sodass ich all das, was diese ganzen Vorurteile begünstigt, aufgesaugt und in mir zu Substanz gemacht habe. Die Vorurteile lasse ich hier mal bewusst aus.
Als ich die USA besuchte, erkannte ich erstmals, was wahre Diversität bedeutet und warum es trotzdem Einheit schaffen kann. Hierzulande wäre es wohl auch möglich, würden wir uns selbst nicht so sehr ein-/abgrenzen.
Ich lernte aber noch vieles mehr in den Jahren, die folgten. Deshalb lautet meine aktuelle Version des Textes da oben wie folgt:
Heimat
„Ich könnte mich jetzt einfach hier auf den Boden legen und einschlafen.“
Sie interpretierte es wohl als das, wonach es klingt. Müdigkeit. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich nur einschlafen kann, wenn ich mich wohl fühle, dass ich nur in Gegenwart einer Person, der ich vollkommen vertraue, zum Schlaf finde. Sie wusste nicht, was meine dummen Worte bedeuteten.
„Hast du Kaffee hier?“, frage ich eine Freundin, deren Wohnung ich zum ersten Mal besuche. Schamlos, ungezwungen.
Während unserer Bandproben sitze ich mit Gitarre im Schneidersitz auf dem Boden. Als einziger. Und obwohl ich mehrmals gefragt werde ob ich einen Stuhl haben, oder woanders sitzen möchte, schüttle ich nur den Kopf.
In allen drei Beispielen fühle ich mich einfach verdammt gut. Und sicher und glücklich und viele andere tolle Adjektive.
Der Ort, den ich immer gesucht habe, existiert nicht. Genauso wenig wie unsere Herkunft unser Wesen im Jetzt bestimmt, genauso wenig kann ein physischer Raum das Gefühl in uns beeinflussen, uns selbst ändern.
Aber ist somit Heimat dann nur ein Gefühl von Zugehörigkeit? Müsste dann nicht meine Heimat in zwei Ländern liegen, weil ich mich mit beiden identifiziere?
Doch was, wenn ich allein bin? Wenn mein Gefühl von Heimat auf anderen Personen beruht, bin ich dann allein heimatlos?
Diese Fragen wollten mich lange nicht los lassen.
Ich stehe auf einer Bühne. Über hundert Augenpaare schauen aus dem Halbdunkel heraus zu mir hinauf. Ich kann ihre Gespanntheit spüren und innerlich meine Anspannung. Die Stimmen in meinem Kopf drängen mich dazu anzufangen, alle bis auf einer. „Warte“, sagt er „nimm alles in dich auf, lass es zu einem Teil von dir werden und sprich, wenn du merkst, dass es Zeit ist.“
Als ich die ersten Worte ins Mikrofon spreche, scheint der Masse vor mir ein Seufzen zu entweichen.
Ich war schon immer ein Suchender. Doch wusste ich nie, wonach ich suchte. Mal war es eine Heimat, dann wieder Liebe, ein anderes Mal mich selbst. Jetzt wo ich all das und noch viel mehr bei mir trage, merke ich wie sinnlos aber gleichzeitig notwendig so vieles gewesen ist. Und alles was bleibt sind Erinnerungen.
Als ich mit meinem Cousin durch die Roma Siedlung lief, mit Rucksäcken bepackt gerade aus dem Reisebus ausgestiegen, riet er mir vorsichtig zu sein. Als sei es damit getan. Keine Erklärung, warum Vorsicht geboten war, oder ob irgendeine Gefahr bestand.
Nach einigen hundert Metern hörte ich die Musik.
Sanfte Sufiklänge, ein Tanz von Darbuka (eine kleine Trommel) und Ney (eine Schilfflöte). Die Theke bestand aus einem Holzbrett, dass quer in einen Türrahmen genagelt wurde, ein alter Mann stand dahinter. Er schaute zu mir, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Vor dem Café waren zwei Tische aufgestellt, die dazugehörigen Stühle glichen sich nur in der Anzahl der Beine. Zwei Männer saßen Tee trinkend an einem Tisch und beachteten nur ihr gegenüber. So viel Leben.
Bis mich mein Cousin herausriss, mir sagte, dass wir schon angestarrt werden.
„Schlussendlich weiß der Leser dennoch nicht genau, was der Erzähler eigentlich meint.“
Hier noch der Link zu dem Buch: Weltenwandel
Ich kann es jedem wärmstens empfehlen. Es wirft zwar viele Fragen auf, solche, die ich der Autorin am liebsten selbst stellen würde, was ich aber niemals tun würde, denn das macht es gerade interessanter. Und da ihr euch hier mit meinen Texten herumschlagt, werdet ihr dann ausnahmsweise auch mal was gutes lesen.
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