Montag, 21. Januar 2019

Prelude



Was müssen sich wohl die Menschen in der Antike gedacht haben, wenn sie solch einen Blutmond gesehen haben, wie er gerade vor mir am Himmel steht? Sehr wahrscheinlich hielten sie ihn als ein böses Omen, als einen Vorboten schlechter Nachrichten. Und ja, auch ich könnte die verspätete Bahn und die darauffolgende Verkettung unglücklicher Umstände mit diesem Mond in Verbindung bringen. Doch gibt es einen großen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität. Und manche Sachen sind schlichtweg Zufälle. Dachte ich jedenfalls.

Die Erde steht zwischen der Sonne und dem Mond. Ihr Schatten fällt auf die Mondoberfläche und verdunkelt sie, jedoch bricht die Atmosphäre der Erde das Licht der Sonne so, dass nur noch die roten Bereiche auf den Mond gelenkt werden. Er erscheint rot an den Stellen, wo kein direktes Sonnenlicht fällt. So ähnlich verlaufen meine Gedanken an diesem Morgen, bedeckt von ihrem Schatten und nur erleuchtet von dem roten Schein, der sie zu umgeben scheint.

Trotz Verspätung und trotz Blutmond und all der Kälte und Müdigkeit und obwohl mir ständig der Gedanke kommt einfach zurück nach Hause zu gehen, mache ich weiter. Im Kopf eine leise Pianomelodie, Chopins Prelude no. 4, die Hans von Bülow mit „Ersticken“ betitelte. Und so fühle ich mich auch in diesen Momenten, als würde ich ersticken in all diesem Lärm und all diesen Menschen. Der ganze Tag wie eine einzige Stellwerkstörung; was auch mein persönliches Wort des Tages wurde.

Der Winter scheint wohl genau so unerwartet gekommen zu sein, wie viele andere Sachen auch. Dabei ist es Januar, man hätte sich eigentlich darauf einstellen können. Im Traum sah ich sie, wie sie mir eine Hand auf die Schulter legte; wir küssten uns. Auch dieser Traum kam unerwartet. Und seine Einzigartigkeit überraschte mich.

Ich komme verspätet dort an, wo ich vor Stunden hätte sein sollen. Der Mond hat sich mittlerweile zum Horizont bewegt, nicht mehr rot, weiß und aufgedunsen schwebt er dort, lässt sich Zeit und beobachtet die gefrorene Welt, wie sie sich langsam der aufgehenden Sonne entgegen dreht. Ob rot oder weiß, letztendlich war es doch nur das Licht der Sonne. Irgendeine Weisheit versucht sich ihren Weg in mein Verständnis zu bahnen. Ich werde zurück versetzt in die Zeit von Rumi, sitze mit ihm in einem Garten und höre mir seine Gedichte an. Er wiederholt ständig dieses eine Wort: Liebe. Wahrscheinlich würde er meine Situation belächeln und mir dann eine kryptische Antwort geben.

Im Sonnenlicht sieht man aber die Flamme einer Öllampe nicht mehr. Und bei Tageslicht scheinen auch meine Gedanken und Wahrnehmung anders zu verlaufen. Sie sind klarer und leider auch kälter. Viel zu schnell für all die nächtlichen Träumereien und Phantasien.

Ich kann sie vor mir sehen. Sie ist wunderschön. Und ich? Ich brauche Luft. Kann nicht denken. Mein Kopf füllt sich mit Lärm, so viel Lärm. Sie ist diejenige die Ruhe bringt. Wenn sie nur wüsste. Wenn ich nur klarer sehen könnte.

Manchmal sehe ich mich selbst als zwei Wesen, die sich um mich herum bewegen, so wie die Sonne und der Mond. Mal ist der eine klarer, dann der andere. Beide ziehen sie aber mit solch einer Kraft an mir, wie die Gravitation der Sonne und des Mondes an der Erde. Und dann bin ich mal Mond, mal Sonne, mal Erde. Mal jemand anderes.

Der Liebende und der Geliebte sind eins. Einer findet sich im anderen wieder. Er ist Spiegel und Bild in einem. Sie fließen ineinander und gehen aus einem heraus. Neu geboren und doch uralt.

Wenn ich gehen will, verspüre ich ihre Gravitation am stärksten. Es sind diese Momente, die ich schätze, diese letzten Augenblicke, bevor die Sonne untergeht. Die Tage werden zwar länger, aber die Zeit verhält sich immer noch gleich. Sie fliegt in ihrem Schein und schleicht dahin in der Dunkelheit.

Nachts verändern sich die Gedanken. Es schleichen sich Träume ein und Wünsche. Sehnsucht nach einem warmen Bett, nach Wärme. Ein Verlangen nach der Sonne oder wenigstens nach diesem roten Schein.

We are the mirror as well as the face in it.
We are tasting the taste this minute
of eternity. We are pain
and what cures pain, both. We are
the sweet cold water and the jar that pours.
Rumi