Samstag, 27. Juni 2020

Burrat nuk punojnë, se të përqesh bota

Ich sitze im Auto, auf dem Weg von Hamburg zurück nach Köln. Das Radio funktioniert nicht, weil die vom Händler den Code mehrfach falsch eingegeben haben und eine erneute Eingabe erst nach einer Stunde möglich ist. Zunächst lausche ich einfach dem Brummen des Motors und den Geräuschen dieser Stadt, die bei geöffnetem Fenster an mir vorbei rauschen. Auf der Autobahn schließe ich das Fenster, summe Melodien, die mir durch den Kopf schwirren und singe schließlich einfach selbst, um die dröhnende Stille zu übertönen. „Ku janë ato fusha, ku ato kaçuba; Vajza të bukura, si n’vendin tim kund nuk ka“, singe ich gemeinsam mit Muharrem Qena und anschließend „Oh moj ti me sytë e zi, me shikime si rrufe, falmi sytë që më sheh, se po s’erdhe do te vij.” ‘O du mit den schwarzen Augen’, dieses klassische Albanische Schönheitsideal, das Sabri Fejzullahu irgendwann in den späten 70ern oder Anfang der 80er besungen hat.
Als nächstes folgt
“Kur të jesh mërzitur shumë“, ein Lied, das auf dem gleichnamigen Gedicht von Dritero Agolli beruht und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass ich plötzlich in der Poesie lande.

Fan Noli, Anës Lumenjve. „Arratisur, syrgjynosur, rraskapitur dhe katosur; po vajton pa funt, pa shpresë...”, frustriert tippe ich den Code ins Radio und wider Erwarten erwacht es zum Leben. Der erste Sender, nachdem ich den Suchlauf starte, ist das Deutschlandradio. Kultur. Ich will gerade weiter schalten, weil ich Musik brauche, als die Moderatorin plötzlich ein Wort spricht, dass mich mit dem Finger am Knopf innehalten lässt: „Albanien”.

Ein Land an der Schwelle zum EU-Beitritt. Die Verhandlungen dazu wären im Gange, doch verweist die Reporterin in dem Beitrag auf einen Kontrast hin, etwas, dass man in Europa nicht erwarten würde: Frauen, die dazu genötigt werden, ihre Kinder abzutreiben, nur weil sie ein Mädchen erwarten.

Der Druck auf diese Frauen gehe meist von der Familie des Mannes aus, oder vom Mann selbst. Die Frauen, seien meist nicht in der Lage sich zu widersetzen, müssten sonst die Familie verlassen und seien nicht in der Lage sich selbstständig zu versorgen. Die Männer wüchsen auf in diesem System und können sich nicht gegen die gesellschaftliche Norm stellen, würden dann als unmännlich gelten.

Also werden Mädchen abgetrieben, weil man einen Jungen braucht. Sogar bis zu dem Punkt, dass Frauen nach der 12. Schwangerschaftswoche irgendwelche Medikamente gegen Magenbeschwerden nehmen, um eine Fehlgeburt einzuleiten. Eine Abtreibung nach 12 Wochen wäre nach albanischem Recht illegal.

„Burrë” dieser idealisierte Begriff, der eben nicht nur ‚Mann‘ bedeuten, sondern auch so viel mehr in sich beinhalten soll. Er steht für Tapferkeit, Ehrenhaftigkeit und Tugendhaftigkeit. Jedenfalls wurde mir das immer so erzählt. Doch wie sieht die Realität davon gerade hier in Deutschland unter albanischen Männern aus?

„A po qin najsen?“ Ich war gerade mal 16 oder 17, saß auf der Rückbank direkt hinter meinem Vater, der uns zu einer Beerdigung fuhr, zu uns zugestiegen waren zwei Verwandte. Nach der Begrüßung beugte sich der, der mit mir hinten saß hinüber, er ist ungefähr zehn Jahre älter als ich, und stellte mir diese Frage, die übersetzt lautet: „Fickst du irgendwas?“

Hätte ich damals den Schneid und das Rückgrat besessen, die ich jetzt eine halbe Ewigkeit später habe, hätte ich wohl mit „Ja, deine Mutter“ geantwortet, aber damals habe ich es dabei belassen.

Studium, andere Stadt, unbekannte Menschen. Ich lernte einen anderen Studenten in der dortigen albanischen Moschee kennen. In der Straßenbahn, nachdem ich ihm erzählte, dass ich alleine wohne, fragte er mich, wie viele Frauen ich denn schon dort gehabt hätte. Quoten, die erfüllt werden müssen, statistische Erhebungen, die ihm wichtig waren, ich wunderte mich weshalb er mir diese Frage stellte, obwohl wir uns nicht mal ne halbe Stunde lang kannten. Ich sagte ihm, ich müsse die Kerben an meinem Bett zählen, die ich nach jeder erlegten Beute reinritze, und würde dann auf ihn zurückkommen.

Ein ganzes Buch mit solchen Beispielen, könnte ich mit der Zeit füllen, in der ich in einem Kiosk gearbeitet habe, dessen Besitzer Albaner war und der deswegen stark von Albanern frequentiert wurde. Ich möchte nur ein Beispiel daraus nehmen:
Ich stehe hinter der Kasse, neben mir hinter der Theke sitzen noch der Sohn des Besitzers mit einem Bauarbeiter. Die zwei könnten Brüder sein, denn neben ihrem Aussehen und der Kleidung, gleichen sie sich darin, wie schmierig sie wirken. Es hatte sich eine kleine Schlange gebildet und ich war gerade dabei einige Pakete für einen Kunden einzuscannen, als ein junges Mädchen, mit einem Päckchen in der Hand, hereinkam. Sofort verstummte das Gespräch der beiden Männer neben mir. Lautstark verkündete der eine auf Albanisch, was er mit ihr anstellen würde und der andere setzte mit ein, indem er sehr bildhaft beschrieb auf welche Weise er welches Körperteil von ihr missbrauchen würde. Dabei schien sich keiner der beiden daran zu stören, dass sie wahrscheinlich noch minderjährig war. Zudem war sie albanisch, verstand jedes Wort, lief knallrot an, drehte sich um und floh aus dem Laden.

Objektifizierung von Frauen, Klassische Rollenverteilungen, all das wurde in der Reportage als etwas unvorstellbares in der europäischen Gesellschaft dargestellt, etwas, dass es nur in dem tausende Kilometer weit entfernten Albanien geben könne.

Natürlich kann man jetzt damit argumentieren, dass solches Verhalten allgemein unter Männern verbreitet sei. Weiter kann man sagen, dass es eigentlich nur Machogehabe sei, harmlose Worte und dass keiner wirklich zu schaden komme dadurch. Ich habe alle möglichen Argumente schon gehört. Meist bemerke ich die unterschiede im Verhalten der anderen, sobald Dritte ins Spiel kommen.

Ich sitze mit einem Freund in einem Café. Zwar kann ich mit ihm kaum über Kunst oder Kultur reden, doch interessiert er sich auch für Wissenschaft und Technik und wenn uns da die Gespräche ausgehen sollten, dann bleibt immer noch genug Politik übrig. Ein weiterer Albaner stößt zu uns, lacht darüber, dass ich ihm nicht die Hand schütteln will, weil wir immer noch Corona Bestimmungen haben. (Ich wurde in dieser Zeit sehr oft ausgelacht deswegen, weil ich Angst hätte, der Virus nicht echt sei etc. Auch so ein klassisches unmännliches Attribut, das Regeln Befolgen. Deshalb benutzen echte albanische Männer auch keine Blinker in ihren Audis und BMWs (echte albanische Männerautos).) So sitze ich also an dem Tisch, links mein Freund, rechts der andere und langweile mich plötzlich, weil es in dem Gespräch nur noch darum geht, sich mit seinen Habseligkeiten zu loben. Das neueste Handy, das beste Auto und viele andere Superlative.
„Kqyr, kqyr!“ – „Schau, schau!“ Und dabei spüre ich noch, wie an meiner Schulter gerüttelt wird. Ich habe kurz das Bild meines Neffen und meiner Nichte vor Augen, wenn sie mir total begeistert etwas Neues zeigen wollen, was mir nicht entgehen darf. Der eine im Stuhl umgedreht und der andere mit ausgefahrenen Augen starren sie an, als sei sie ein weiteres dieser tollen Objekte aus dem vorangehenden Gespräch. Sie sieht mich an und ich entgegne den Blick einer Frau, eines Menschen, und schäme mich in dieser Situation zu sein.

Ein Großteil dieses Verhaltens ist Erziehung. Männer gelten als besser, als überlegen. Kritisiert man einen dieser Männer, dann sind sie sehr schnell angepisst, schneller noch, wenn sie tatsächlich Schuld an etwas haben sollten. Schuld eingestehen können ist auch eine Eigenschaft, die dem albanischen Ideal eines Mannes entsprechen sollte, doch hat ein solcher heutzutage einfach nie Schuld. Wie viele solcher Männer mir doch erzählt haben, wie sie ihre Frauen betrogen haben, wo man sich die besten Prostituierten (natürlich nutzen sie andere Wörter dafür) besorgen kann und welche Position denn letztlich die beste ist und was man tun muss um ihnen zu zeigen, wie toll man doch ist; den Prostituierten, nicht den Frauen daheim.

Pause. Einmal durchatmen. Der Titel dieses Textes stammt aus dem Film „Përrallë nga e kaluara“, eine Verfilmung der Komödie „14 vjeç dhëndërr“ von A. Z. Çajupi, aus dem Jahre 1987. Übersetzt lautet es „Männer arbeiten nicht, sonst lacht die Welt dich aus“ und ist die Antwort des 14-jährigen Gjinos auf die Aufforderung seiner doppelt so alten Ehefrau Marigona, ihr die Steine wegzuräumen, während sie das Feld pflügt. Und diese Motive ziehen sich durch den gesamten Film. Zum einen die Angst davor, wie das Umfeld, im Film als „bota“ – die Welt bezeichnet, über einen urteilt, zum anderen die klar strukturierten Geschlechterrollen, die vor allem von der Mutter an den Sohn weitergegeben werden. Schließlich ist er jetzt ein Mann.

Erziehung.

Ich sitze bei Verwandten, das leere Glas auf dem Tisch wird von den spielenden Kindern umgeworfen, also hebe ich es auf und gebe es dem ältesten Sohn, damit er es in die Küche bringen kann. Sofort protestiert die Großmutter, dass er das nicht machen dürfe, weil er ein Junge sei, also stehe ich selbst auf, bringe das Glas in die Küche (als Gast in einem albanischen Haushalt eine Todsünde) und sage ihr: „Gut, dass ich ein Mann bin.“

Erziehung.

„Meine Frau muss Jungfrau sein.“ Wie oft ich diese Worte schon gehört habe. „Ich finde es ekelhaft, wenn sie schon einen Mann gehabt hat.“ Meist importieren sie sich dann die Frauen aus der Heimat. Solche, die entsprechend in ihre Rollen hinein erzogen wurden. Haushalt schmeißen, Kinder gebären, dem Mann dienen. „Wie kannst du ohne Frau alleine leben, wer kocht für dich?“ Auch das höre ich oft.

Die Frau als Mutterersatz. Ich schätze mal, auch diese Männer sind niemals wirklich unabhängig. Ironisch, wo sie sich selbst doch als das Nonplusultra sehen.

Doch die Abhängigkeit vieler Frauen hier ist dann um Vieles extremer als hungern zu müssen, wenn der Partner nicht kochen sollte oder keine saubere Kleidung zum Tragen haben.

Gelegentlich übersetze ich für Albaner. Behördengänge, Arztbesuche, je nachdem was ansteht, versuche ich zu helfen, wenn ich kann. Die Abgründe, die sich einem dabei öffnen können, sind erschreckend.

Ein Mann erzählt mir bei einem Arztbesuch, dass seine Frau ihr Studium abbrechen musste, als sie ihn geheiratet hat. Die Frau, zehn Jahre jünger als er, ist vollkommen in sich zurückgezogen, spricht kaum, antwortet nur, wenn sie etwas gefragt wird. Sie leidet unter Depressionen, verlässt kaum das Haus und wenn, dann mit ihrem Mann. Sie sind miteinander glücklich und lieben sich, aber während er arbeitet, andere Menschen trifft und Freundschaften pflegt, hat sie nur ihn.

Anderer Arztbesuch. Ich erfahre ziemlich heftige Details über die Gesundheit dieser Frau, die kaum ein Wort Deutsch sprechen kann, obwohl sie schon lang genug hier gelebt hat, um ein Mädchen nach dem anderen zur Welt zu bringen. So lange, dass es medizinische bedenken gebe, einen weiteren Versuch zu starten, einen Jungen zu gebären.

Jungen braucht man. Denn nur Männer tragen den Familiennamen weiter und das Blut und was weiß ich noch, Ehre oder sowas bestimmt. Männer sind ja auch die einzigen, die Erben sollen. Frauen gehen aus dem Haus, sobald sie heiraten und gehören dann zu einer anderen Familie. Solche Sprüche darf man sich dann anhören.

Ein albanischer Mann heiratet eine albanische Frau, die in Deutschland aufgewachsen ist. Er verlässt die Heimat, zieht hierher, zeugt eine Tochter mit ihr. Sie leben einige Jahre zusammen, er unterstützt seine Eltern in der Heimat, so wie es viele hier tun, zweigeteilt, zwischen zwei Welten. Dann trennen sie sich. Ich weiß die Gründe nicht, ich will da auch nicht spekulieren. Er heiratet erneut, eine Frau aus der Heimat, bekommt zunächst einen Sohn, dann weitere. Seine Tochter sieht er nicht mehr, stellt auch die Unterhaltszahlungen nach der ersten Geburt ein. Die Frau sehe ich oft, vollbeladen mit Kinderwagen und Kindern und eindeutig überfordert.
Als ich eines Tages vom Wandern mit einer Freundin zurück komme, klingelt vor der Haustür mein Handy. „Hast du Bargeld bei dir? Kannst du meiner Frau vielleicht 50€ vorbeibringen, weil ich jemanden ins Krankenhaus begleiten muss, um seinen Onkel zu besuchen? Ich habe vergessen ihr Geld da zu lassen.“
Also tausche ich Wanderschuhe gegen Sneaker aus und mache mich auf dem Weg. Sie öffnet die Haustür, der Kleinste klammert sich an ihr Bein. Eines dieser klassischen Fotomotive. Ich gebe ihr das Geld, denke mir eigentlich nicht viel bei, weil es jedem mal passieren kann, bis sie mich beschämt ansieht und mir etwas sagt, was mich erst das Ausmaß der Situation realisieren lässt: „Meine Karte funktioniert nicht.“ Wie auch, wenn sie wahrscheinlich gar nicht existiert.

Und so schafft man Abhängigkeit, wo keine zu sein braucht und Misstrauen, wo eigentlich das größte Vertrauen sein sollte. Und im Notfall? Soll die Frau dann Nachbarn belästigen, um den Kindern was zu essen oder ein Medikament bezahlen zu können?

Po bota? Es gibt auch viele Männer, die darunter leiden. Den Blick fortwährend nach außen gerichtet, immer darauf achten, was die Welt sagt, was die anderen machen. Verglichen wird oft unter Albanern. Mir scheint so, dass es nicht mal ums eigene Glück geht, sondern nur darum, nach außen hin zu zeigen, dass man besser ist, oder wenigstens mitziehen kann. Glücklich wirken. Und dann wird Druck ausgeübt. Der Schwiegervater kommt mit der Schwiegertochter nicht zurecht, also muss sich der Sohn von ihr trennen. Als Hure wird sie bezeichnet, Geschichten gesponnen, wie sie ihn betrogen hat. Und unter vier Augen erzählt er mir, wie sehr er sie noch liebt. Stattdessen importiert er einfach eine neue Frau. Die Eltern zufrieden stellen.

Auch ich habe selbst oft genug zu hören bekommen, dass ich doch endlich heiraten solle. Wurde dazu gedrängt irgendwelche Frauen zu treffen, die aus einem anderen Planeten zu sein schienen und zu denen ich niemals Bezug finden konnte. Frauen, die im Leben leider nur das als Erfüllung zu sehen scheinen: Heiraten, Kinder zeugen und mehr auch nicht. „Ich lese gerne Bücher“, sagte mir mal eine und hat wohl nicht erwartet, dass ich mit „welche?“ darauf antworte, denn sie konnte mir nicht mal ein Lieblingsbuch nennen.
„E ki kohen.“ – Es ist Zeit. Das ist das häufigste Argument, abgesehen von denen, die meinen ich bräuchte eine Haushälterin. Aber Zeit wofür eigentlich? Vergisst man dabei nicht eigentlich etwas wesentliches, dass zwischen zwei Menschen existieren sollte, die ein Leben miteinander verbringen wollen?
„Ich möchte endlich Enkelkinder.“ Und die hat meine Mutter auch. Die schönsten, die ich mir jemals vorstellen könnte. Aber eben nicht vom einzigen Sohn.

Bota.

In meiner Welt sind einige erstaunliche Menschen. Solche, die nicht an diesen Strukturen haften wollen, an keinen Strukturen im Allgemeinen. Und von diesen Menschen durfte ich in letzter Zeit vermehrt einen Satz hören: „Das ist sehr tapfer von dir.“

Doch tatsächlich habe ich mich niemals tapfer gefühlt und mich auch niemals tapfer fühlen müssen, um mein innerstes zu zeigen, weil diese Menschen mir einfach Sicherheit geboten haben. Gleichzeitig bemerke ich das auch, wenn sich andere mir anvertrauen, dass ich ihnen eine solche Sicherheit biete. Eigentlich ist das schon ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. Beispiele setzen, deshalb auch dieser Text.

Im Film kommt es schließlich zum Happy End. Ich möchte nicht verraten was passiert um es nicht zu spoilen für diejenigen, die ihn vielleicht schauen wollen (komplett auf Youtube zu sehen). Lassen wir also die Welt sein und schaffen uns lieber unsere eigene.

Për inat të priftit, për inat të botës dhe për qejfin tuaj, ju lidh me martesë. Pa hile.”

Sonntag, 7. Juni 2020

Heimat



Im Jahre 2018 entstand der erste Entwurf dieses Textes. Ein erster Versuch meine Zugehörigkeit zu definieren, Heimat zu bestimmen. Deshalb lasse ich auch den Titel stehen, den ich damals gewählt hatte.

Momentan gleiche ich mehr einem wandernden Derwisch, der sich von Wind und Mond und kleinen Zufällen durch die Welt leiten lässt. Und so ein kleiner Zufall führte mich schließlich auch zu diesem Text zurück.

Es reicht ein Bild, um Aufmerksamkeit zu erregen, ein Auge, dass umgedreht in die Kamera sieht und der Verweis auf Don Quixote. Und von einem Profil zu einem Buch ist es nicht wirklich weit. Also las ich im „Weltenwandel“ über das Leben, über Herkunft und Geschichte und Selbstfindung, Einsamkeit, Schmerz, Verzweiflung aber auch Glück und Hoffnung. Und noch mehr Leben. Und alles in einer Bildsprache, die mir sehr bekannt vorkam. So weckte der Text alte Erinnerungen in mir, die lange schon nicht mehr das Tageslicht erblickt hatten. Und das brachte mich zu meinen eigenen Texten zurück und ganz speziell zu diesem.

 

Im Jahre 2018 schrieb ich:

 

 Heimat

 

Manchmal schaue ich in den Sternenhimmel hinauf und mich ergreift eine tiefe Sehnsucht. Oft stelle ich mir dann diese fremden Welten vor, mit ihren blauen und roten Sonnen, unzählige Monde, Planeten und ewiges Eis in dieser unendlichen Leere.

 

Manchmal frage ich mich, wo ich mich eigentlich zuhause fühle.

 

Als wir unsere Heimat verließen war ich erst vier Jahre alt. Dennoch habe ich ein paar Erinnerungen an diesen Ort: Ein Tunnel, der zu unserem Haus führte; der nasse Hinterhof, nachdem es geregnet hatte; das schwerelose Gefühl, in einem Lebensmittelkarton von meinem Onkel herumgetragen zu werden; ein sonniger Tag an einem Springbrunnen mit meinem Vater.

Und dann eine sehr lange Busfahrt mit kleinen Büchern voller Erzählungen und schwarz-weiß Zeichnungen von Tieren und faszinierenden Charakteren.

 

Deutschland war damals ein fremdes Land für mich, das verstand ich auch mit vier Jahren. Kalt war es, mit fremdartigen Menschen, die eine Sprache sprachen, die ich nicht verstehen konnte. Wir wurden zuerst auf einem Boot auf dem Rhein untergebracht. Ich kann diesen kleinen Raum noch vor mir sehen, in dem kaum Platz für uns war, obwohl wir so wenig dabeihatten.

Wie wenig wir hatten war mir damals nicht klar, jedenfalls bis mich mein Vater zum Einkaufen mitnahm.

Mein Vater nahm mich mit in einen Supermarkt. Was heute zum Alltag gehört war damals ein kleines Wunder. Ich entdeckte einen kleinen Fruchtjoghurt und nahm ihn mit. An der Kasse sprach mich diese Frau an und ich klammerte mich fester an meinen Vater. Nicht sie machte mir Angst, sondern diese fremden Laute, die sie ausstieß.

Den Joghurtbecher trug ich den ganzen Weg in der Hand, bis wir zurück auf dem Boot waren. Und dort saß ich dann auf dem Bett und wusste nicht, wie ich ihn essen sollte. Wir hatten keine Löffel.

Man kann aus dem Deckel eines Joghurtbechers einen Löffel falten, das lernte ich an diesem Tag von meinem Vater.

 

Zuhause war und ist immer noch der Ort, wo die Familie ist. Doch ist das auch die Heimat?

 

Mir wurde immer wieder gesagt, dass der Ort meiner Herkunft, meine Heimat sei. Doch wenn ich heute nach Mazedonien fliege, bemerke ich eine Distanz, nicht zwischen mir und dem Ort, sondern zwischen den Menschen dort und mir.

Ich musste mir die Sprechweise aneignen, um im Taxi nicht als Ausländer erkannt zu werden und den doppelten Preis zu bezahlen. Und wenn ich mal jemandem erzähle, dass ich in Deutschland lebe, kommt auch gleich die Aussage: “Du sprichst aber sehr gut Albanisch.”

 

“Du sprichst aber sehr gut Deutsch”, bekomme ich in Deutschland leider auch oft genug zu hören. Natürlich tu ich das, habe ich doch hier die gesamte schulische Ausbildung genossen, so wie jedes andere Kind auch. Aber nein, ich bleibe auch hier der Fremde. So argumentierte eine Kommilitonin, als ich sie auf eine falsche Verbform aufmerksam machte mit: “Ich bin die Deutsche, ich muss es besser wissen als du.”

 

Also, wo ist meine Heimat? Ich glaube, um dies zu beantworten muss ich erst einmal alle Menschen aus der Gleichung herausnehmen. Gedankenexperiment:

 

Ich wache auf in meinem Bett. Natürlich bemerke ich nicht, dass etwas nicht stimmt, wie auch, wenn ich noch keinen Kontakt zu irgendeinem anderen Menschen hatte. Schlaftrunken gehe ich zum Fenster und ziehe erstmal die Rollläden hoch. Vom gegenüberliegenden Dach schreckt eine Elster auf und fliegt in den wolkenverhangenen Himmel davon.

Langsam gehe ich in die Küche und schalte den Wasserkocher für meinen Tee ein. Während der Tee zieht putze ich mir schnell die Zähne und setze mich anschließend mit meinem Handy an den Küchentisch.

Komischerweise sind keine neuen Beiträge auf Reddit. Ich schiebe es auf ein Serverproblem. Als ich jedoch die Google Nachrichtenseite aufrufe, merke ich, dass es keine einzige Meldung von heute gibt. Tatsächlich ist die letzte Meldung ein Bild.de Artikel der um 23:59 Uhr veröffentlicht wurde. Ich laufe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Hier und da ein paar Serien, doch ein Großteil der Sender zeigt nur ein Testbild.

Jetzt erst komme ich auf die Idee aus dem Fenster zu schauen. Kein Mensch zu sehen, was nicht unbedingt etwas heißen muss. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich reiße das Fenster auf und lausche. Nichts, kein Rauschen von der nahe gelegenen Schnellstraße, keine Menschenstimmen, nur das leise brummen eines Audis, der 50 Meter entfernt, fahrerlos auf der Straße steht.

Langsam ergreift mich eine Panik. Ich ziehe mir schnell eine Jacke über und laufe hinaus auf die Straße. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen, also gehe ich zu dem Auto, öffne die Tür und schaue hinein. Handtasche auf dem Beifahrersitz, Rucksack auf der Rückbank, Handy in der Mittelkonsole. Ich greife danach, will es entsperren, aber es fragt nach einem Passwort. Ich drücke auf das Telefonsymbol - “Nur Notrufe” - und wähle 110. Nichts, nur das Klingelzeichen, doch keiner hebt ab. Ich lege auf, setze mich ins Auto und drücke auf die Hupe. Nach der Stille kommt sie mir Ohrenbetäubend vor und doch halte ich weiterhin beide Hände fest auf dem Knopf.

 

Nach fünf Minuten wird mir klar: Ich bin allein.

 

 

Ok, ich weiß nicht so recht, was sich mein Ich aus 2018 gedacht hat. Tee am frühen Morgen?

 

Soweit ich mich erinnern kann, sollte der Text dann damit weitergehen, dass ich die Welt bereise, so gut ich kann und mir einen Ort suche, an dem ich mein Leben verbringen möchte. Anschließend ein zweites Beispiel, wo es mehr um die Menschen geht, die ich um mich herum haben möchte.

Die Erzählerin im Weltenwandel macht eine eigene Transformation in dem Jahr durch, dass sie im Ausland verbringt. Sie beschreibt all die Erinnerungen und Ereignisse, die dies begünstigen.

Wenn ich meinen Text nochmal lese, bemerke ich auch bei mir eine Weiterentwicklung. Zum einen ist der Schreibstil einfach schrecklich und es ist mir schwer gefallen, den ganzen Text unbearbeitet hier stehen zu lassen. Aber auch inhaltlich würde ich es heute ganz anders angehen.

 

Sollte ich Negativbeispiele nennen, dann hätte ich viele, auf beiden Seiten der Nationalitäten.

Ab der fünften Klasse auf dem Gymnasium wurde mir klar, dass ich als Ausländer zu einer Minderheit gehöre. Waren wir in der Grundschule noch homogen verteilt, sah hier die Verteilung deutlich anders aus. Während des Studiums, ich hatte mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, stellte mir ein Professor während eines Kolloquiums als erstes die Frage: „Wo kommen Sie her?“

Perplex antwortete ich ihm: „Aus Köln.“, doch schien ihn das nicht zu befriedigen, den er hakte nach mit: „Ursprünglich?“

Es endete damit, dass der Biodeutsche in unserer Gruppe nach drei Fragen seine 1,0 bekam und wir zwei Deutschen mit Migrationshintergrund so lange malträtiert wurden, bis der Professor, zu der Zeit auch Dekan unserer Fakultät, zufrieden war. Die Note war entsprechend nicht sehr berauschend.

Und von anderer Seite gibt es auch ein gutes. Eine junge, albanische Frau, die ich eins abgrundtief geliebt habe. Wir saßen nebeneinander, sie hatte den Kopf an meine Schulter gelehnt, drehte sich zu mir und verkündete, als sei es nur etwas beiläufiges: „Ich werde dich niemals meinen Eltern vorstellen können.“

Ich war halt nicht aus ihrem Albanien, ich wurde knapp 4 Autostunden von Tirana entfernt geboren und habe dort leider die ersten vier Lebensjahre verbracht, sodass ich all das, was diese ganzen Vorurteile begünstigt, aufgesaugt und in mir zu Substanz gemacht habe. Die Vorurteile lasse ich hier mal bewusst aus.

 

Als ich die USA besuchte, erkannte ich erstmals, was wahre Diversität bedeutet und warum es trotzdem Einheit schaffen kann. Hierzulande wäre es wohl auch möglich, würden wir uns selbst nicht so sehr ein-/abgrenzen.

Ich lernte aber noch vieles mehr in den Jahren, die folgten. Deshalb lautet meine aktuelle Version des Textes da oben wie folgt:

 

Heimat

 

„Ich könnte mich jetzt einfach hier auf den Boden legen und einschlafen.“

Sie interpretierte es wohl als das, wonach es klingt. Müdigkeit. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich nur einschlafen kann, wenn ich mich wohl fühle, dass ich nur in Gegenwart einer Person, der ich vollkommen vertraue, zum Schlaf finde. Sie wusste nicht, was meine dummen Worte bedeuteten.

 

„Hast du Kaffee hier?“, frage ich eine Freundin, deren Wohnung ich zum ersten Mal besuche. Schamlos, ungezwungen.

 

Während unserer Bandproben sitze ich mit Gitarre im Schneidersitz auf dem Boden. Als einziger. Und obwohl ich mehrmals gefragt werde ob ich einen Stuhl haben, oder woanders sitzen möchte, schüttle ich nur den Kopf.

 

In allen drei Beispielen fühle ich mich einfach verdammt gut. Und sicher und glücklich und viele andere tolle Adjektive.

 

Der Ort, den ich immer gesucht habe, existiert nicht. Genauso wenig wie unsere Herkunft unser Wesen im Jetzt bestimmt, genauso wenig kann ein physischer Raum das Gefühl in uns beeinflussen, uns selbst ändern.

Aber ist somit Heimat dann nur ein Gefühl von Zugehörigkeit? Müsste dann nicht meine Heimat in zwei Ländern liegen, weil ich mich mit beiden identifiziere?

 

Doch was, wenn ich allein bin? Wenn mein Gefühl von Heimat auf anderen Personen beruht, bin ich dann allein heimatlos?

 

Diese Fragen wollten mich lange nicht los lassen.

 

Ich stehe auf einer Bühne. Über hundert Augenpaare schauen aus dem Halbdunkel heraus zu mir hinauf. Ich kann ihre Gespanntheit spüren und innerlich meine Anspannung. Die Stimmen in meinem Kopf drängen mich dazu anzufangen, alle bis auf einer. „Warte“, sagt er „nimm alles in dich auf, lass es zu einem Teil von dir werden und sprich, wenn du merkst, dass es Zeit ist.“

Als ich die ersten Worte ins Mikrofon spreche, scheint der Masse vor mir ein Seufzen zu entweichen.

 

Ich war schon immer ein Suchender. Doch wusste ich nie, wonach ich suchte. Mal war es eine Heimat, dann wieder Liebe, ein anderes Mal mich selbst. Jetzt wo ich all das und noch viel mehr bei mir trage, merke ich wie sinnlos aber gleichzeitig notwendig so vieles gewesen ist. Und alles was bleibt sind Erinnerungen.

 

Als ich mit meinem Cousin durch die Roma Siedlung lief, mit Rucksäcken bepackt gerade aus dem Reisebus ausgestiegen, riet er mir vorsichtig zu sein. Als sei es damit getan. Keine Erklärung, warum Vorsicht geboten war, oder ob irgendeine Gefahr bestand.

Nach einigen hundert Metern hörte ich die Musik.

Sanfte Sufiklänge, ein Tanz von Darbuka (eine kleine Trommel) und Ney (eine Schilfflöte). Die Theke bestand aus einem Holzbrett, dass quer in einen Türrahmen genagelt wurde, ein alter Mann stand dahinter. Er schaute zu mir, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Vor dem Café waren zwei Tische aufgestellt, die dazugehörigen Stühle glichen sich nur in der Anzahl der Beine. Zwei Männer saßen Tee trinkend an einem Tisch und beachteten nur ihr gegenüber. So viel Leben.

Bis mich mein Cousin herausriss, mir sagte, dass wir schon angestarrt werden.

 

„Schlussendlich weiß der Leser dennoch nicht genau, was der Erzähler eigentlich meint.“


Hier noch der Link zu dem Buch: Weltenwandel

Ich kann es jedem wärmstens empfehlen. Es wirft zwar viele Fragen auf, solche, die ich der Autorin am liebsten selbst stellen würde, was ich aber niemals tun würde, denn das macht es gerade interessanter. Und da ihr euch hier mit meinen Texten herumschlagt, werdet ihr dann ausnahmsweise auch mal was gutes lesen.