Mittwoch, 24. März 2021

Dinge für die es keinen Platz in Briefen gibt

 

Ich drehe den Stein zwischen den Fingern.

„Schwarzes Gestein?“, höre ich dich Fragen, während du vor meinem geistigen Auge in dem Atlas auf deinem Schoß die Erhöhungen der Vulkaneifel mit dem Zeigefinger abfährst.

Schiefer. Mit scharfen Kanten, die ich jetzt so stark zusammendrücke, dass sie mir tiefe Furchen in die Fingerkuppen schneiden, die auf mikroskopischer Ebene, neben den Erhöhungen der Fingerabdrücke, wie der Grand Canyon wirken müssen.

Steine gehören nicht in einen Brief. Also lasse ich los. Während er zu Boden fällt, dreht er sich noch einmal um seine Achse, bevor er abprallt, nochmal eine halbe Drehung vollführt und dabei in zwei Teile zerbricht. Eines fast doppelt so groß wie das andere.

„Das Schiff des Theseus“, sagt der Philosophielehrer, während er auf die Zeichnung eines Schiffes auf der Tafel zeigt. Vertretungslehrer war er und trägt keinen Namen, weil er längst durch die Löcher des Siebes, was sich mein Namensgedächtnis nennt, gefallen ist. In der Oberstufe unterrichtete er uns für ein halbes Jahr in dem kleinen Eckraum im Hauptgebäude. Das Schiff des Theseus war Thema seiner ersten Stunde.

Wir lernten also von diesem Schiff, dessen Planken nach und nach ersetzt werden und bekamen die Frage gestellt, ob das Schiff immer noch das gleiche sei, nachdem ein bestimmter Anteil erneuert wurde. Dies führte er weiter fort, bis das gesamte Schiff aus neuen Brettern bestand und zum Schluss baute er unerwartet aus den alten Planken ein neues Schiff und fragte: „Welches ist jetzt das Schiff des Theseus?“

Der Kurs war gespalten und ich fand mich alleine wieder, in dem Versuch, zu erklären, dass mehr zum Schiff gehöre als das Materielle, dass darin auch die Erlebnisse und Erfahrungen und Wünsche und Träume der Mannschaft mit einfließen und, dass sowas nun mal nicht in einem Stück Holz steckt, sondern immer dem ursprünglichen Schiff zugesprochen wird. Einige lachten, der namenlose Vertretungslehrer lächelte und nickte mir fast unmerklich zu. Und das reichte mir. Anerkennung von dem, der es Wertschätzen konnte.

Steine gehören nicht in einen Brief, wiederhole ich im Kopf und mache Fotos, die ich dir sogleich auch schicke, um diesen Tag wenigstens auf diese Weise mit dir teilen zu können. Eines davon werde ich später sogar ausdrucken und mit in einen Brief geben.

 

Spalten. Teilen. Mitteilen.

Man hat dieses Bild vor sich, das Abbild einer Person. Und es ist wunderschön, auch wenn es längst nicht vollendet ist. Also setzt man sich dran und malt, Detail um Detail. Mit tausenden von Pinselstrichen, die Worten gleichen, sucht man den Menschen zu sehen, der dahinter steckt.

Obengenannte Fotos gehören in einen Brief, ebenso kleine, bunte Origami Tiere oder Zeichnungen. Ein Tarot Deck, angefangen beim Narren, der halbfertig gemalt sein Dasein auf meinem Schreibtisch fristet. Das würde passen.

Und Herzblut. Auch wenn sich der Postbote jedes Mal beschwert, dass es unhygienisch sei.

Ich passe nicht. Nicht mehr. Wenn ich versuche mich selbst in einen Briefumschlag zu stecken, dann passen höchstens die Finger meiner Hand hinein. Vielleicht schaffe ich es ja nicht mich mitzuteilen. Erreiche nicht die benötigten Frequenzen, finde nicht die richtigen Worte. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Ich kann mich nicht teilen.

 

Freundschaft.

Genaugenommen, auch vergleichbar mit dem Schiff des Theseus. Man tauscht immer wieder etwas aus, passt immer wieder etwas an und es bleibt immer das. Freundschaft. Sofern man es gemeinsam macht.

Für mich ist sie etwas komplett Individuelles. Kein Schema F, das man im anderen Menschen sucht und zu mir passen muss. Mehr. So viel mehr und so viel schöner. Einzigartig. Jede für sich besonders, so wie auch jeder Mensch für sich besonders ist.

Etwas Gemeinsames, in dem man sich auf den gegenüber einlässt. In dem man immer wieder mit dem Gegenüber ist. Und das sehe ich nicht. Kein „wir“, auch wenn es so oft erwähnt wird.

 

[An diesem Punkt schüttelt der Leser den Kopf und fragt sich, worum es hier geht]

 

Liebe. Ein kleiner Rumi in meinem Kopf macht Freudensprünge bei dem Wort. Und zu Recht. Schließlich weiß er doch, dass dies Grundlage einer jeden Beziehung ist, die über eine einfache Bekanntschaft hinausgehen soll. Die Fähigkeit sein Gegenüber in seiner Gänze ins Herz zu schließen, mit allen Fehlern und allem Schönen. Sich aufeinander einzulassen und ineinander einzugehen. Bild und Spiegelbild zugleich, sagt er, sagt mein Kopf und meint damit auch Spiegel und Hand, die ihn hält.

Zwei auf sich selbst bezogene Punkte bilden keinen Kreis. Kein Ich und Du, es braucht mehr, ein gemeinsames Wir neben den beiden Individuen. Erst ein Dreieck ist ein Kreis. Und aus diesem Kreis entstehen neue Dinge. Gefühle. Texte. Musik. Kunst. Gemeinsamkeit.

 

In einer anderen Dimension.

Zwei Menschen machen eine Reise in die Gebiete, aus denen sie abstammen. Sie wollen Einheimische treffen, ihre Geschichten erfahren, Mythen, Sagen und Redewendungen sammeln. Alles, begleitet von Bildmaterial, festhalten.

Sie beginnen ihre Reise im Norden, machen einen Schlenker nach Osten, gehen danach in den Süden und wieder so weit westlich, bis sie ans Meer kommen. Von dort geht es die Küste entlang erneut gen Süden. „Man kann hier Tauchen und Oktopusse sehen“, erzählt einer von ihnen. Eine kurze Debatte über den Plural des Wortes ‚Oktopus‘ kommt auf, bis sie sich letztlich beide auf ‚Kraken‘ einigen.

Am Ende haben sie eine wunderschöne Reise hinter sich gebracht, mit Dutzenden Menschen gesprochen, Tausende Fotos geschossen, einen Großteil davon in infrarot. Sie haben gelacht und geschwitzt und gelebt in diesen Ländern, die so fremd sind, aber sich so vertraut anfühlen.

 

In dieser Dimension halte ich einen kleinen Stein in der Hand. Schiefer. Ich drehe ihn herum, betrachte wie das Licht auf seiner Oberfläche spielt und lasse seine scharfen Kanten tiefe Spuren in mein Fleisch beißen.

 

o – Der Narr

Der Narr wird wohl für immer sein halbfertiges Dasein auf meinem Schreibtisch fristen. Er kennt keine Regeln. Noch hört er das Bellen seines treuen Hundes. Nutzt nicht den Stab in seiner Hand, um den Boden abzutasten, den fehlenden Boden nicht zu ertasten, um in seinem Nichtsein den Abgrund zu erkennen, in den er zu stürzen droht.

Und doch steht er nicht für ein Ende. Der Narr steht für einen Neuanfang. Hoffnung. Den Glauben an das Universum.

Ich malte mich selbst. Denjenigen, der unbeschwert kurz vor dem Fallen steht. Aber niemals stürzt, sondern über diesem Abgrund stehen bleibt. Schwerelos. Und niemals zu Ende gebracht.

Voller Hoffnung und dem Glauben an etwas Größerem, den Blick in den Himmel gerichtet und alles in sich aufnehmend. Ein Narr.