Samstag, 5. Dezember 2020

Dekonstruktion

 


 

„Deine Geschichte ist niederschreibenswert“, sagte sie.

Ich musste lachen, schließlich gab es schon einen Text dazu, in dem auch dieser eine Moment geschildert wird:

 

Wir stehen im Laderaum eines kleinen Transporters, so einer, den man sich im Möbelhaus mieten kann. Wir, das sind meine zwei Cousins, deren Vater am Tag zuvor verstorben ist, einer ihrer Cousins (mütterlicherseits) und ich. Und ein Sarg zwischen uns.

Der Friedhof liegt 20 min weit entfernt, kurz vor der Grenze zu Kosova, einmal rechts abfahren auf einen ungepflasterten Weg und schon ist man da.

Der Wagen hält, draußen tummeln sich Männer, reden laut, sehr laut, so wie es alle Männer im Balkan tun. In einem Aufbrausen, was dem Wegfliegen eines Vogelschwarms gleicht, springen alle anderen um mich herum heraus. Auch der Fahrer steigt aus.

Ich möchte meinen Onkel hier nicht alleine zurück lassen und doch wallt Wut in mir auf, über diese Respektlosigkeit, die sie ihm erweisen. Bis sich eine kleine Erinnerung Platz verschafft. Mein Onkel, ebendieser, der jetzt hier liegt, hat immer nur gelacht in solchen Situationen. Und so knie ich mich neben ihn, lege eine Hand auf den schlichten Holzkasten und lache.

 

Den Text, bzw. das Notizbuch, in dem er ist, konnte ich nicht mehr finden. Ich versuchte ihn zu rekonstruieren, schilderte den Tag, meine Gedanken all das, was sich ereignet hatte, innen und außen. Versetzte das Ganze mit unnötigen Fakten und am Ende war er so schlecht, dass ich meinen Monitor zusammenknüllen, wegwerfen und neu anfangen musste.

Der Neuanfang kostete mich einen weiteren Monitor.

 

Deshalb nun die Dekonstruktion eines Textes. Beginnen wir mit dem Ende:

 

Nach neun Jahren in einem anderen Land, nach neun langen Jahren hieß es endlich, wir können unsere Heimat besuchen. Nach neun Jahren saß ich ihm gegenüber, einem Unbekannten, den ich aber auf so vielen Fotos und Videoaufnahmen gesehen hatte. Er sei mein Lieblingsonkel gewesen, sagte meine Mutter immer. Ich schaute ihn an und merkte, dass er genauso verloren schien, wie ich, genauso wenig mit mir anzufangen wusste, wie ich mit ihm.

Am nächsten Tag stand er vor der Tür. „Najo, hajde.“, ein einfaches „komm“, auf dieser seltsamen Weise, halb lachend und brüllend laut. Also zog ich mir die Stiefel an und folgte ihm zu seinem Auto. Wir redeten kaum auf der Fahrt, er zeigte mir ein paar Gebäude. Das alte Haus, in dem sie alle aufgewachsen waren, die Ruine einer Moschee, die beim großen Erdbeben zerstört wurde, schien aber schnell zu merken, dass ich zu sehr damit beschäftigt war die ganzen Eindrücke, die gesamte Stadt in mich aufzusaugen und schwieg.

Er parkte das Auto, wir stiegen aus und liefen durch enge Gassen bis zu einem kleinen Restaurant aus dessen Schornstein weißer Rauch stiegt. Er bestellte mir einen Hamburger. So groß wie mein Gesicht, gefüllt mit Fritten auf der einen Seite, Salat auf der anderen, Ketchup und hausgemachte Mayo, mittendrin das Fleisch. Er selbst bestellte nichts.

Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas so leckeres gegessen. Wir gingen gleich raus, ich mit dem Warmen Burger in der Hand, schaute hinauf und bemerkte, dass es schneite. Der erste Schnee des Jahres und der erste Schnee in meiner Heimat. Ich war angekommen.

 

Ich konnte diesen Ort niemals wiederfinden. Wahrscheinlich bin ich schon hunderte Male daran vorbei gelaufen, doch ist es niemals dieser Ort aus der Erinnerung, niemals diese eine Erinnerung, die mich nach seinem Tod dazu bewegte einen Text zu schreiben. Sie nieder zu schreiben, als der große Moment, die perfekte Erinnerung.

 

Sie brachte mich dazu zu graben. Mit einem einfach „schreib doch mal“, oder so ähnlich. Sachen auszugraben, die lange Zeit einfach nur unter der Oberfläche geschlummert haben. Was man nicht sieht, schadet auch nicht, oder so ähnlich.

Was sich beim Schreiben jedoch zeigt, ist dass vieles belastend sein kann. Und die Tatsache, dass ich darüber schreiben möchte, wahrscheinlich ein Hinweis darauf, dass es raus muss.

 

Das Schnippen eines behandschuhten Fingers vor meinem Gesicht, holte mich wieder in die Realität zurück. „Geht’s dir gut?“, fragte er, ich nickte, hielt den Duschkopf wieder höher, dahin, wo er ihn haben wollte und fragte mich, warum er als einziger Handschuhe trägt.

Es waren die Spuren, die mich aus der Realität fallen ließen. Schwarz verfärbte Fingerkuppen, die tief in die Haut auf der Brust zu graben schienen, die roten Flecken, wahrscheinlich vom Defibrillator verursacht und verfärbte Brustbein.

 

Das ist die Story. Ende. Keiner braucht Details darüber, ob ich mit einem Politiker im Flugzeug saß oder wie man von einer Hauptstadt in die nächste gefahren ist. Nicht zu der Geschichte, jedenfalls.

 

Es war die Leichenstarre, auf die ich nicht vorbereitet war, die in meinem Kopf einen Schutzmechanismus in Gang setzte, der mich letztlich selbst erstarren ließ. Und nach jedem Rückschlag scheine ich wieder in eine solche Starre zu verfallen.

Was damals das Fingerschnippen war, war jetzt diese einfache Frage nach dem Schreiben. Und ein Gefühl, dass sich eingeschlichen hatte, dass aber nicht benannt werden konnte, bis das Wort endlich im Raum stand. Schwerelosigkeit.