Mittwoch, 25. September 2019

Octopus




Der Kraken, Schrecken der sieben Weltmeere, Zerstörer unzähliger Schiffe, die er mit seinen acht Fangarmen in die dunklen, kalten Tiefen zerrt. Zwei dieser Fangarme kommen jetzt langsam aus seiner Höhle, danach zwei weitere, ziehen langsam den roten Körper hinter sich her und dann ist er vollständig heraus und zeigt sich in seiner ganzen Pracht.

Ziemlich klein, schießt mir durch den Kopf, wahrscheinlich noch ein Jungtier. Die Freude ist groß, tatsächlich so groß, dass ich sie an dem Schütteln an meiner Schulter spüren kann. Ich schaue nach rechts, und pure, kindliche Freude strahlt mir entgegen. Und die spüre ich auch, bei dem Anblick, aber auch ein leichtes Unbehagen, alte verrostete Mechanismen, die langsam wieder in Gang kommen, tiefsitzende Angst. Spielt alles keine Rolle, denn vor mir steht nun der erste, lebende Oktopus, den ich sehe. Also mache ich Fotos.

Der Name Oktopus kommt aus dem Griechischen und bedeutet sowas wie „Achtfuß“ oder „Achtfüßler“. Da es aus dem Griechischen stammt, lautet der richtige Plural des Wortes Oktopoden und nicht Oktopusse (obwohl es gebräuchlich ist) und auch nicht Oktopi (obwohl es deutlich lustiger klingt). Aber als sich herausstellte, dass das Aquarium keinen Namen für ihn hatte, nannten wir den vor uns schwimmenden Oktopus einfach „Pi“.

Pi hat selbstverständlich 8 Tentakel mit unzähligen Saugnäpfen dran und wahrscheinlich genug Zugkraft, um uns beide in sein Becken zu ziehen mitsamt Fotoausrüstung. Erstaunlich ist jedoch, dass in jedem dieser Tentakel mehr Nervenzellen vorhanden sind, als in seinem Gehirn. Eine Beobachtung, die zu der Theorie geführt hat, dass jeder dieser Tentakel eigenständig denken kann und sogar eine eigene Persönlichkeit haben soll.

Vielleicht haben wir genau das bei einem anderen Oktopus beobachten können, als dieser sich in eine Ecke seines Aquariums verkroch und mit diversen Gegenständen eine Höhle baute und nur ein einziger Tentakel herauskam und das Becken erforschte. Vielleicht war es auch nur projiziertes Wunschdenken und ganz natürliches und zufälliges Verhalten.

Was bedeutet es überhaupt multiple Persönlichkeiten zu haben und wie soll man diese als Außenstehender erkennen, wenn man ein Individuum vor sich hat, das sich so gleichmäßig und elegant durch seinen Lebensraum bewegt. Wie lange muss man Beobachter sein, um ein Wesen zu durchblicken, das einem nicht einfach ausdrücken kann, wie es sein Dasein empfindet?

Ich habe zwar keine Tentake, doch spüre ich wie etwas an mir zerrt; im Geiste, nicht in der Realität – und doch nenne ich diesen Geist meine Realität. Zwei Wesen sind es, die um mich kämpfen. 

Der eine ist tiefblau wie die unendlichen Weiten des Meeres und ebenso tief traurig. Er fürchtet Alles und Jeden, der auch nur in meine Nähe kommt. Er ist der Zweifler, derjenige, der nicht will, dass ich vorankomme, der nicht glaubt, dass ich vorankommen kann, der hofft, dass ich stehen bleibe, mich zu einem Ball auf dem Boden zusammenrolle, mich verstecke und mich in seine unendlichen Tiefen sinken lasse. Für immer.

Der andere ist Feuer und genauso feuerrot erscheint er mir. Er ist Wut in Person aber auch Leidenschaft und Liebe. Er trägt so viele Facetten, dass es mir manchmal unmöglich ist zu wissen, ob er Freund oder Feind ist oder mehr als einer, ein echter Oktopus. Der Kraken, Schrecken der sieben Weltmeere, Zerstörer von Freundschaften, Verbrenner von Erde, Meister alles Schönen, Verschlinger der Zeit, Liebhaber der Liebe, Herold des Todes und Herrscher der Schlaflosigkeit.

Ein Oktopus zeichnet sich nicht nur durch seine Intelligenz aus, sondern auch durch seine Wandlungsfähigkeit. Er wechselt nicht nur seine Farbe, auch wenn das seine Spezialität ist, er kann sich auch nahtlos seinem Umfeld anpassen und vollkommen unsichtbar werden. Dabei kann er auch Pflanzen, Steine oder sogar andere Tiere nachahmen.

Ich selbst verstelle mich nicht. Ich versuche mich nur zu schützen. Ich baue Mauern mit allem, was um mich herum liegt, eine Barriere. Ich mache mich unerreichbar und unantastbar, weil ich unverwundbar sein möchte. Doch macht es mich nur einsam. Meine Tentakel sind das einzige, was die Welt da draußen sieht.

Pi konnten wir nicht sehr lange beobachten, bzw wir konnten ihm sehr lange zusehen, jedoch nur beim Schlafen. Auch der andere Oktopus, den wir sahen, zeigte sich nur kurz in seiner vollen Pracht, zog sich dann in eine Ecke zurück und baute sich eine Höhle aus Seegras und seinem Spielzeug.
Wir machten uns Gedanken darüber, ob er schlecht gehalten würde, ob es gegen seine Natur sprach, dass er sich eine Höhle bauen musste und keinen Rückzugsort hatte. Doch rückblickend könnte es genauso gut sein, dass das seine Natur ist, seine Persönlichkeit. Lieber eine Höhle bauen, als sich einfach irgendwo hinein zu quetschen.

Wie viel kann man eigentlich über so ein Tier aussagen, wenn man es nur ein paar Stunden gesehen hat?

Meine Natur ist schwierig zu beschreiben. Vielleicht auch deshalb, weil ich zu wenig Zeit hatte, mich selbst zu beobachten. Es brauchte aber nur eine Kleinigkeit, einen kurzen Lichtblitz, um den Weg zu weisen.

Jeder Teil von mir scheint seinen eigenen Willen, seine eigene Persönlichkeit, zu haben. Mal sind sie ruhig, wie Tentakel, die in der Strömung treiben, dann schlagen sie wieder wild um sich und ich selbst kann sie kaum bändigen. In solchen Momenten verletzen sie nicht nur mich, sondern auch alle um mich herum. Vor allem diejenigen, die mir etwas bedeuten.

Jetzt sitze ich hier, allein, und höre ihren Stimmen zu. Ich betrachte etwas Wunderschönes und sie überschütten mich mit ihren Worten, der eine voller Zweifel und Unsicherheiten, der andere voll Verwirrung und Wut. Und mir wird schlecht, bei dem Gedanken, dass all diese Obszönitäten, all diese panischen Ängste aus meinem eigenen Kopf herauswachsen und Gestalt annehmen und andere verletzen wollen, nur um niemanden an mich heran zu lassen.

Er lebt ein einsames Leben, allein im Meer und allein auch in diesem Aquarium vor uns. Der Kraken, Schrecken der sieben Weltmeere, wenn man ihn nicht wirklich kennt. Wahrscheinlich einfach nur missverstanden und egal in welcher Form er erscheint, im Inneren immer gutmütig. In jedem Fall wunderschön, auf diese einzigartige Weise. Und schenkt man ihm etwas mehr Beachtung und ein bisschen mehr Zeit, sieht man, wie faszinierend er sein kann.