Montag, 11. Oktober 2021

Anleitung für einen Zaubertrick

 


Ein Zaubertrick erfolgt in drei einfachen Schritten. Zuerst die Einleitung, die den Zuschauer einfangen und an die Handlung heranführen soll. Anschließend eine einfallsreiche Ablenkung. Zum Schluss eine grandiose Enthüllung.

Ein guter Zaubertrick beinhaltet dabei noch drei essenzielle Dinge:

Ein durchdachtes Konzept. Der Magier ist nicht nur ein Schauspieler auf der Bühne. Vielmehr ist er Geschichtenerzähler. Er muss wissen, wie er seine Aufführung aufbaut, wo seine Schwächen liegen, und immer ein Ass im Ärmel haben, sollten die Sachen mal nicht so laufen, wie erwartet.

Eine Zauberformel. Diese kann willkürlich gewählt werden. Sehr beliebt sind dabei Klassiker wie Abrakadabra und Hokus Pokus, wenn man aus meiner Ecke der Welt kommt auch exotischeres wie Qiribu Qiriba[1].

Die Irreführung. Darauf läuft jeder Trick letztendlich hinaus. Zweck der Irreführung ist es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers abzulenken, so dass man den Trick vor ihren Augen ausführen kann, ohne dass sie irgendetwas bemerken. Gute Magier können mit offenen Karten spielen und nur im entscheidenden Moment ihr Handeln verbergen. Andere schwören auf Pyrotechnik oder fuchteln wie wild mit den Armen in der Luft herum, um zu täuschen. Richtig waghalsige Magier benutzen Sprache. Sie stellen Fragen, um zu verwirren. Zum Beispiel: Was haben der Rhein, ein Joghurtbecher und der Kommunismus gemeinsam?

 

 

Meinen ersten Zaubertrick lernte ich von meinem Vater. Er nahm ein Streichholz, zündete es an und ließ es mich erst auspusten, nachdem gut die Hälfte abgebrannt und der nun schwarz gefärbte Kopf sich langsam zur Seite bog, sodass er einem alten, gekrümmten Mann glich. Er streckte mir das Streichholz entgegen, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand, während er seine rechte darunter hielt, und forderte mich auf, meine Hand über dem Streichholz kreisen zu lassen und die Zauberformel zu sprechen. Qiribu Qiriba. Der Kopf des Streichholzes sprang einfach ab und fiel zu Boden.

Dies wiederholte er ein paar Mal, bis er mir schließlich zeigte, dass er lediglich mit seinem rechten Daumennagel gegen die untere Kante des Holzes schnippte, um die Spitze abzubrechen.

Der Zauber war verflogen.

 

Ein guter Magier verrät niemals seine Tricks. Auch wenn es letztlich nur dazu dient, dem Zuschauer die Illusion von wahrer Magie nicht zu nehmen.

 

Wahre Magie zu finden ist nicht schwierig. Erst recht nicht, wenn man von einem Volk abstammt, das an Verwünschungen und Hexereien glaubt. Ein Kind, was sich nicht beruhigt, ist vom bösen Blick getroffen. Ein Durchzug kann einen ins Grab bringen. Verstaucht man sich die Hand, muss man ein Ei darauf zerbrechen, damit sie wieder heilt. Und psychologische Probleme sind schlichtweg schwarze Magie, die von einem Geistlichen ausgetrieben werden muss.

 

 

Magie steckte auf der langen Busfahrt in kleinen Büchern mit einfarbigen Umschlägen, auf denen jeweils ein Titel und eine Tuschezeichnung gedruckt waren. Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und Ali Baba und die 40 Räuber begleiteten mich drei Tage lang. Im Inneren dutzende Bilder, die ich mir bis ins kleinste Detail einprägte, während wir unsere Heimat verließen und aus dem Süden Jugoslawiens heraus das gesamte Land umfahren mussten, um keine Festnahme zu riskieren.

 

Das Asylantenheim war einst eine alte Arbeiterbracke, die zur nahegelegenen Ölraffinerie gehörte. Wir bekamen ein Zimmer, meine Eltern, meine ältere Schwester und ich. Und einen Fernseher hatten wir. Einer dieser alten Röhrenfernseher, dessen gläserne Bildfläche auf wundersame Weise knisterte, wenn man mit der Hand darüber fuhr. Aus ihm lernten wir Kinder die Rezepturen für Zaubertränke und die Bedeutung von Abenteuer. All die Geschichten spielten wir im angrenzenden kleinen Waldstück nach, fernab der restlichen Stadt.

 

Später wurden wir in die Stadt geholt. Lebten nun in einem Einfamilienhaus; mit sechs weiteren Familien. Für mich war es wunderbar, hatte ich so viele Freunde dort.

Eines Tages, beim Spielen vor dem Haus, rief uns ein Nachbar hinüber, lud uns zu sich ein. Er war ein großgewachsener Mann mittleren Alters. Seine Wohnung war im Dachgeschoss im 3. oder 4. Stockwerk. Er machte uns frische Waffeln, legte noch eingemachte Kirschen drauf.

 

Neue Welten eröffneten sich mir aus einer kleinen Kiste, die bunte Pixel über einen Bildschirm jagte. Viel erstaunlichere Welten entdeckte ich in Büchern, nachdem mir mein Klassenlehrer in der Grundschule die Schulbibliothek zeigte, die zu meinem Lieblingsort wurde.

In der Schule lernte ich aber auch, wie facettenreich die reale Welt ist und wie unterschiedlich das Leben meiner Klassenkameraden gegenüber meinem eigenen sein kann.

 

 

Ein Magier sollte seine Geschichten gut wählen. Er sollte sich nicht zu sehr an Details festhalten und niemals zu viel erzählen. Ein kleiner Bruch im Narrativ kann immer dazu genutzt werden Spannung zu erzeugen und den Zuschauer im Bann zu halten.

 

 

Es sind diese einfachen Worte. Ich liebe dich. Eine Zauberformel für sich. Doch diese Liebe hatte keine Aussicht. Wir waren nicht zu jung, auch schien der Zeitpunkt nicht falsch. Nichts so Einfaches.

Wir können nicht zusammen sein. Ich könnte dich nie meinem Vater vorstellen.

 

Woher kommen Sie?, fragte mich ein Professor in einer mündlichen Prüfung. Meine Antwort, über den Ort, an dem ich aufgewachsen war, schien ihn nicht zu befriedigen, denn er hakte nach: ursprünglich?

Nach zwei Fragen ließ er mich durchfallen, mit der Begründung, ich hätte den Stoff wohl nicht verstanden.

 

Es hört auf, Magie zu sein, wenn man den Satz Ich bin die Deutsche hier, ich muss es doch besser wissen, als du zu hören bekommt, obwohl man in dem gleichen Land aufgewachsen ist, die gleichen Schulen besucht hat.

 

 

Plötzlich merkt man, dass man eben nicht von Magie spricht, sondern etwas ganz anderem. Freude vielleicht oder gar Liebe. Etwas, dass wir alle in diesem Land gemeinsam haben, egal wie wir heißen oder welche Farbe unsere Haare und unsere Haut haben. Egal wo wir herkommen. Menschlichkeit und Glück. Und ein jeder tut so, als können wir es ihm streitig machen. Als wäre nicht genug davon da. Kein Geld für Waffeleisen und kein Platz für Anderes.

 

 

Als ich vier Jahre und vier Monate alt war, nahm mich mein Vater mit zum Einkaufen. Der Supermarkt erschien mir riesig. Voller Waren, die ich in der alten Heimat niemals gesehen hatte. In der Kühlabteilung entdeckte ich einen Joghurtbecher. Mein Vater gab ihn mir in die Hand und ich lief damit voller Stolz bis zur Kasse.

Die Kassiererin lächelte mich an und sprach etwas in einer fremden Sprache zu mir. Ich versteckte mich hinter den Beinen meines Vaters. Beim Weitergehen winkte ich ihr dann doch noch zu.

Den ganzen Weg nach Hause trug ich diesen Joghurtbecher vor mir, der mir wie ein Schatz vorkam.

Nachdem wir angekommen waren, setzte ich mich gleich auf eine der Kojen in unserer Kajüte – die erste Unterbringung für Flüchtlinge war damals ein Boot auf dem Rhein – und gleich darauf schien meine kleine Welt unterzugehen. Wir besaßen kein Besteck.

Da öffnete mein Vater den Becher und faltete mir aus dem Deckel einen Löffel.

 

Die Antwort: Meine erste Erinnerung und mein erster Tag in diesem Land. Ein Land, das von Anfang an Heimat war, auch wenn ich es erst später erkennen sollte. Ein Land, das voller Magie steckt – und Allem, wofür dieses Wort noch steht – wenn man nur mit dem richtigen Blick darauf schaut.



[1] Gesprochen: „Tschiribu Tschiriba“

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